Kairos und Chronos

Peter Friese, Gedanken zur performativen Installation von Franticek Klossner

Kunstverein Ruhr, Essen, NRW, 2015


Der in Bern lebende Künstler hat für den Ausstellungsraum des Kunstverein Ruhr eine beeindruckende mehrteilige Installation geschaffen. Darin kommen sowohl zwei Videoprojektionen, als auch ein gefrorenes, real im Raum schmelzendes Selbstportrait aus Eis zum Einsatz. Das Zusammenwirken von modernster Medientechnologie, performativen und skulpturalen Elementen begünstigt eine ästhetische Erfahrung, innerhalb derer sich kollektive Bildwelten mit gegenwärtigem Denken überlagern und eine spannende Aktualisierung erfahren. Der eigentümliche Titel der Ausstellung greift zudem zwei aus dem antiken griechischen Denken stammende Begriffe auf, die diese Ausgangslage bestätigen und die folgenden Gedankengänge untermauern sollen.

Schmelzendes Selbstportrait

Über einer großen, auf dem Boden des Ausstellungsraumes platzierten Wasserfläche hängt ein Selbstportrait des Künstlers aus Eis. Am Anfang seiner Hängung ist es der exakte 1:1 Abguss des Künstlerkopfes. Frisch aus dem Kühlraum an einer Metallschlaufe kopfüber aufgehängt überzieht sich dieser beeindruckende Eiskörper zunächst mit einer samtartig weißen Schicht aus Raureif, bevor er durch die Raumtemperatur bedingt allmählich zu schmelzen und abzutropfen beginnt. Dieser physikalische Prozess geschieht in einer für den Betrachter erstaunlichen Langsamkeit, welche wiederum Aufmerksamkeit verlangt. Die Zeit des Wartens wird Teil des performativen Konzepts. Schließlich lösen sich die feinen weißen Eiskristalle auf und der Schmelzvorgang wird als permanenter rhythmischer Prozess in der Ausstellung erlebbar.

Bild und Gegenbild

Auf das Wasser projiziert, erscheinen abwechselnd Videoaufnahmen eines aufmerksam blickenden Auges und das Bild eines nackten jungen Mannes in Embryonalhaltung. Ein Videoprojektor wurde so platziert, dass diese Bilder von der Wasseroberfläche auf die gegenüberliegende Wand des Raumes exakt gespiegelt und vergrößert werden. Die ständig fallenden Wassertropfen des abschmelzenden Kopfes aber erzeugen – wie einzelne Regentropfen auf einem See- naturgemäß konzentrisch pulsierende Kreise auf dem Wasser. Und weil es sich bei der Videoprojektion um ein „Lichtbild“ handelt, erzeugen die Wellen vielfache Lichtbrechungen und visuelle Amplituden innerhalb der Bildspiegelung. Auf diese Weise entsteht eine eindrückliche, sich ständig verändernde Situation – sowohl auf der Wasseroberfläche, als auch im eigentlichen Video, in die der Betrachter wie von selbst einbezogen wird. Es sieht so aus, als würde der Blick des Betrachters durch den Gegenblick des großen Auges beantwortet, dem dann der zusammengekauerte Körper des nackten jungen Mannes folgt. Und alles das wird durchdrungen durch die von den Wassertropfen ausgehenden dynamisch konzentrischen Kreise und Schwingungen, um sich schließlich zu einem eindrücklichen, die Aufmerksamkeit des Betrachters herausfordernden Gesamtbild zu verdichten.

Performative Installation

Frantiček Klossner bezeichnet seine Werkreihe mit gefrorenen Portraits und Körpern als „Infinite Performance“. Das performative Konzept ist nicht nur für die Dauer einer Ausstellung angelegt, es erstreckt sich bereits seit seinen ersten „Einfrierungen“ (1990) über 25 Jahre bis heute in jeweils neuem Kontext in zahlreichen installativen oder medialen Variationen. Jede erneute Inszenierung ist ein zeitlich begrenzter Vorgang, an dem der Betrachter unwillkürlich beteiligt ist. Es geht also nicht allein um das Miteinander sich gegenseitig überlagernder Bilder und um ein Portrait aus Eis, das langsam abschmilzt, sondern auch und vor allem um eine Durchdringung und Überlagerung im gedanklich-ästhetischen Sinne. Die im Ausstellungsraum platzierten Elemente bedingen einander und sind in der Lage in ihrer Gesamtheit Gedanken, Gefühle und Erinnerungen zu stimulieren, deren Miteinander bereits kunstspezifisch ist. Das rhythmisch bewegte Videobild und der Eiskopf laden zur Meditation über verrinnende Zeit, Lebenszeit und Vergänglichkeit ein. Die Tatsache, dass es sich beim Material des Kopfes um gefrorenes Wasser handelt, welches im Laufe der Zeit schmilzt, macht sie zu einem sehr ephemeren »Menschenbild«, das sich im Laufe der Zeit sichtbar verändert, um sich am Ende aufzulösen. Dieses »Immer-Weniger-Werden« der eisig-festen Substanz und das langsame Abtropfen des Schmelzwassers gehören somit zum Werkverständnis und zum Konzept Klossners. Eine Skulptur auf Zeit sozusagen, ein Bild in permanenter Auflösung, welches mannigfache, durchaus widersprüchliche Assoziationen beim Betrachter auszulösen vermag. Faktisch handelt es sich hier um einen völlig normalen physikalischen Vorgang, um den veranschaulichten Wechsel von einem festen in einen flüssigen Aggregatzustand. Doch geht es Klossner nicht um eine naturwissenschaftliche Versuchsanordnung, sondern um ein Kunstwerk und damit um eine mehrdeutige symbolische Setzung und um die bewusste Re-aktivierung von Jahrtausende alten Vorstellungen von Zeit. Klossner geht es zudem um die augenfällige Generierung eines Menschenbildes, das Zeit gleichsam verkörpert und damit thematisch auch um die existenzielle Frage nach der „Inneren Zeit“ und der „Äußeren Zeit“ eines Menschen.

Kairos und Chronos

Der Titel greift thematisch zwei von den Griechen entdeckte unterschiedliche Zeitvorstellungen auf. Chronos als vergehende permanent verrinnende, lineare und damit auch quantitativ messbare Zeit, mit der wir als nur einen begrenzten Zeitraum lebende Menschen rechnen und im doppelten Sinne „fertig werden“ müssen. Es geht um die Zeit, die wir zur Verfügung haben, also um Zeit, die uns bleibt. Die Griechen der Archaik personifizierten Chronos als Urgott, der direkt aus dem Chaos hervorgegangen ist. Er schuf letztlich die Welt, wie wir sie kennen, und mit ihr auch unsere Vorstellungen von Zeit und Endlichkeit, der wir letztlich unterworfen sind. Kairos hingegen verkörpert eine komplett andere Zeitvorstellung der Griechen. Wir können ihn verstehen als günstigen, rechten Zeitpunkt, zum Beispiel, um eine richtige Entscheidung zu fällen. Oder auch als günstigen Zusammenfall mehrerer eigentlich voneinander unabhängiger Komponenten. Wir können, ja müssen zum Kairos aktiv Stellung beziehen, um ihn abzupassen. Es geht um eine Vorstellung von Zeit, die man sich nimmt, wenn der richtigen Augenblick erkannt wird – um ihn zu nutzen. Bei den Griechen der Archaik gibt es die Verkörperung des Kairos als sehr beweglichen schönen Jüngling mit einer Stirnlocke. Und im Sinne des bei ihnen gelebten Anthropomorphismus, geht es sprichwörtlich darum diese Zeit, wenn sie kommt, schnell und entschlossen beim Schopfe zu greifen. Im Deutschen gibt es das dem Griechischen entlehnte Wort „Kairophobie“, welches zutreffend für „Angst vor Entscheidungen“ steht. Kairos gilt auch als jüngster Sohn des Zeus und verkörpert durch seine Jugend und Schönheit eben die besagte Rechtzeitigkeit, den Augenblick, der bald vorbei sein kann. Diese beiden Zeitbegriffe bilden bei den Griechen ein Gegensatzpaar, das noch immer Plausibilität besitzt: Die Zeit, die man hat, unterscheidet sich in der Regel vollkommen von der Zeit, die man sich nimmt. Die durch ein Chronometer objektiv gemessene Zeit ist etwas vollkommen anderes, als die subjektiv empfundene oder bewusst durchlebte Zeit. Stunden vergehen manchmal so schnell wie Minuten und umgekehrt. Als dritte Zeitkomponente sollte der Vollständigkeit halber noch Aion angeführt werden. Seine löwenmähnige geflügelte Verkörperung steht bei den Griechen für Ewigkeit. Für eine Zeitvorstellung also, die unsere chronologisch messbare Lebenszeit und die darin vorhandenen günstigen Augenblicke um ein Unvorstellbares übersteigt und damit auch die Grenzen unseres Verstehens erfahrbar macht. Doch vermochten bereits die Griechen sich eine Berührung von Kairos und Aion vorzustellen und die (manchmal in der Kunst aufscheinende) Möglichkeit einen Augenblick ewig währen, oder zumindest als ewig während erscheinen zu lassen. Die Installation Klossner trägt diesen unterschiedlichen Zeitvorstellungen insofern Rechnung, als der im Video vor uns liegende junge Mann sinnbildlich für den heutigen Kairos stehen könnte. Sozusagen als Verkörperung und Inszenierung des Augenblicks, dessen Bild von den unablässig fallenden Tropfen des Chronos überlagert und letztlich ausgelöscht wird.

Aktivierung innerer Bilder

Frantiček Klossner beschäftigt sich in seinem gesamten Werk mit existenziellen Themen. Der menschliche Körper als Repräsentant psychischer und sozialer Individuationsprozesse, seine Schönheit, aber auch Hinfälligkeit und Sterblichkeit spielen dabei immer wieder eine zentrale Rolle. Alle diese Themen haben ihre Rückbindung im kollektiven Bildgedächtnis. Und diese Erkenntnis ist sozusagen ein Schlüssel zu Klossners Werk. Die Bilder die er in seinen performativen Installationen kreiert, erhalten ihre Evidenz gerade durch den bewussten Einsatz einer kollektiven Bildsprache. Mit anderen Worten: Klossner ist nicht der alleinige „Erfinder“ dieser Bild-Vorstellungen, sondern ihr bewusster Nutzer, Teilhaber und Interpret. Er nutzt in seiner Arbeit das kulturelle Bildgedächtnis, das bereits seit Tausenden von Jahren existiert und generiert daraus aktuelle und verbindliche Bilder unserer Zeit. Man könnte auch von wirkmächtigen Bildern sprechen, welche im Sinne Aby Warburgs dem Betrachter einen Denkraum der Besonnenheit öffnen. Und hier liefert uns das schmelzende Selbstportrait eine Menge an Material. Der von Apoll geschundene Marsyas, als in unserem Bildgedächtnis verankertes Bild, fällt uns ebenso ein, wie Folterszenen aus dem Vietnamkrieg, Enthauptungen durch die Guillotinen der Französischen Revolution, oder die jüngst im Internet verbreiteten Köpfungen von schuldlosen Geiseln durch religiöse Fanatiker.

Umkehrung von Zeit

Kehren wir noch einmal zurück zur performativen Installation im Kunstverein Ruhr. Im vorderen Bereich des Ausstellungsraumes gibt es eine zweite Videoprojektion, in der ein Eisportrait im Zeitraffer schmilzt um sich – die Zeit zurückdrehend – wieder von vorn aufzubauen – um danach wieder zu schmelzen. Diese Inszenierung konfrontiert den Betrachter mit einem konzentrierten Sinnbild: Als Loop abgespielt wird das Video zu einem Zeichen für Werden und Vergehen, für einen nicht enden wollenden, sich ständig wiederholenden Prozess, der qua Zeitraffer, also durch den schnelleren Ablauf der Bilder in seiner Unausweichlichkeit begriffen werden kann. Beide Komponenten ergänzen einander, sie werden im Ausstellungsraum zum sinnstiftenden Gegenüber.

Wie Bedeutung entsteht und das eine mit dem anderen zusammenhängt

Klossner geht es, wie wir aufzeigen konnten, um Sinnbilder, deren Bedeutung auf einer tieferen symbolischen Ebene liegt. Das griechische sumballein (Symballein), von dem das auch im Deutschen gebräuchliche „Symbol“ abgeleitet ist, meint wörtlich „zusammenwerfen“ und drückt damit die Vielschichtigkeit und Komplexität sich gegenseitig ergänzender Bedeutungsebenen aus. Doch wie entstehen diese Bedeutungen? Wohnt „Bedeutung“ den Zeichen per se inne, oder wird sie ihnen gegeben? Klossners Einsatz von derart „Starken Bildern“ geschieht nicht im Sinne einer Re-Inszenierung ewig gültiger Archai, wie sie uns eine bestimmte Schule des Denkens nahelegen würde. Es sind keine “Archetypen“, von denen geglaubt wird, dass sie ewig währen und zivilisationsunabhängig schon immer sind und sein werden. Klossner nutzt stattdessen bildhafte Verdichtungen von Konfliktbildern unserer Kulturgeschichte. Diese Bilder sind im Laufe der Geschichte von Menschen gemacht und für relevant erachtet worden. Erst durch permanente Wieder-Herstellung, Rückbesinnung und Rückbindung (re-ligere = Rückbindungen schaffen) sind sie zu dem geworden, was sie für uns heute darstellen.

Mythische Geisteslage

Der bereits erwähnte Aby Warburg würde in Hinblick auf diese „starken Bilder“ auch von einem Energieüberschuss sprechen, von einem Potenzial, das ihnen innewohnt und das eben nur bestimmte Bilder – zu denen ich eben auch schmelzende Selbstportraits rechnen möchte, aus sich heraus besitzen. Doch wie gesagt ist diese Bildenergie nicht ewig und gottgegeben vorhanden, sondern erst im Prozess der Zivilisation entstanden, hat sich den Bildern gleichsam als eindrückliche eingeschrieben und ist in ihnen gleichsam zur Ein-Bildung gelangt. Auf diese Weise konnte sie zugleich Bestandteil verschiedener Mythen werden, von denen diese starken Bilder u.a. erzählen. Wenn man Mythos als urheberunabhängige Erzählung begreift, als Geschichte also, die vor sehr langer Zeit entstanden sein muss und seither immer wieder (mit stetigen Abwandlungen und Ergänzungen) überliefert und erzählt worden ist, darf hier ein Zusammenhang von Kunst und Mythos vermutet werden, der weit in die Geschichte der Menschheit zurückreicht. Klossner weiß von diesen weitreichenden Zusammenhängen und greift sie in seiner Arbeit in besonderer Weise auf.

Ästhetische Erfahrung

Durch den reflektierten Einsatz von modernen Medientechnologien werden diese kollektiven Bilder, die sich in unser Gedächtnis eingeschrieben haben, und die Erinnerung an die mit ihnen verbundenen Narrationen auf ungewöhnliche Weise zum Vorschein gebracht, gleichsam abgerufen. Dabei spielen erstaunlicherweise mehrere Zeitebenen, die sich gegenseitig überlagern eine wichtige Rolle. Einmal die im Video konservierte, sich ständig wiederholende Zeitschleife, ein Loop also, der abwechselnd das uns anblickende große Auge und den gekrümmten nackten männlichen Körper und den im zweiten Video abschmelzenden und sich wieder aufbauenden Eiskopf zeigt. Das andere Mal die real ablaufende Zeit im Raum, die uns durch den vor unseren Augen sich auflösende Eis-Schädel bewusst wird. Hier sind es vor allem die permanent herunterfallenden Wassertopfen und die von ihnen hervorgebrachten konzentrischen Kreise, die uns wie die bei den Griechen gebräuchliche Wasseruhr (Klepsydra) vergehende, real im Raum heruntertropfende Zeit bewusst machen. Ein sprichwörtliches Werk in Raum und Zeit, das Zeit und die damit zu verbindenden Sinnebenen zu thematisieren versteht. Indem wir diese Zusammenhänge entdecken und auf uns beziehen, überführen wir den Vorgang des Sehens, Beobachtens und Assoziierens in ein ästhetisches Räsonnement.

Auflösung und Präsenz

Die gesamte Arbeit wird, gerade weil sie sich vor den Augen des Betrachters bis zu ihrer kompletten Auflösung verändert und wie gesagt mit verschiedenen Zeitebenen und Bildern arbeitet, zu einem bleibenden, starken Bild. Die Gegenläufigkeit von Verschwinden und in der Erinnerung Festhalten ist dabei ein besonderes Merkmal des Werkes und kann als sein auf den ersten Blick beinahe paradox anmutender Wesenszug verstanden werden. Genauer genommen handelt es sich hierbei um das Bewusstwerden einer gleichzeitig stattfindenden Entmaterialisierung (Abschmelzen) und Vergeistigung (Erinnern), welche eben Bestandteile der mit dieser Arbeit verbundenen ästhetischen Erfahrung sind. Jochen Gerz hat einmal gesagt, dass die wahren Bilder diejenigen sind, die keine Bilder sind. Er meint damit die inneren Bilder, welche ihren Platz in unseren Vorstellungen, unseren Erinnerungen, Sehnsüchten und Ängsten haben. Im Werk Klossner sind diese Bilder eingeschrieben und laden den Betrachter zum Meditieren, aber auch gerade vermittelt durch ihre Wirkmächtigkeit zugleich zum Reflektieren und Erkennen ein.


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