Frantiček's Märchen zur Gegenwartskunst

Die surrealen Kurzgeschichten aus Frantiček's Märchensammlung «Ali Baba und die 40 Kunstkritiker», erzählen von wahren und unwahren Begebenheiten in der Unterwelt der zeitgenössischen Kunstszene. Fantasiewelten und biografisch Erlebtes verflechten sich zum hintersinnigen Erfahrungsbericht eines Direktbetroffenen. Das am eigenen Leib erlebte, wird mit viel abgründigem Humor schonungslos offenbart. In einer ersten Videofassung von 2013, werden die Märchen vom bekannten Schweizer Musiker und Comedian Müslüm gelesen.


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Das Märchen von der Chancengleichheit, der Musiker und Comedian Müslüm liest aus Franticek's Märchensammlung: Ali Baba und die 40 Kunstkritiker, Video, 2013


Dominik Imhof, Schweizer Kunstmagazin ARTensuite, 2013

Die Auseinandersetzung mit dem Kanon der Kunstgeschichte führt uns direkt zu einer nächsten Arbeit unter dem vielversprechenden Titel «Ali Baba und die 40 Kunstkritiker». Sieben kurze Märchen hat der Künstler für die Ausstellung geschrieben. Es sind Märchen aus der Kunstszene, die einen kritischen Blick auf bestimmte Aspekte des Kunstbetriebs werfen. Sie erzählen von nicht vorhandener Chancengleichheit, von brotloser Kunst, von jungen Kuratoren und Pelztassen, immer mit Anspielungen auf traditionelle Märchen aus «1001 Nacht». Die Märchen sind in einer Videoarbeit gesprochen und aufgeführt vom bekannten Performancekünstler und Comedian Müslüm. Die hehre, elitäre Kunstwelt wird dabei schon von der Sprecherfigur Müslüm mit seinem Migranten-Slang aufs Heftigste gebrochen und gleichzeitig erinnert er an einen orientalischen Geschichtenerzähler.


Alice Henkes, Kunstbulletin/ARTLOG, 2013

Franticek Klossner gelingt es, über poetische Bilder politische Themen zu verhandeln. Gern geht er die Mechanismen der Kunstwelt auch mit entlarvend frechem Witz an. In seinen Märchen, die er in einem Video vom Komiker Müslüm lesen lässt, durchleuchtet er die Gesten von Künstlern, Kritikern und Kuratoren. Mit Schalk knackt er deren Attitüdenpanzer und zeigt so, dass es ihm, wie jedem, der Satire mit Bedacht betreibt, sehr ernst ist mit der Kunst.


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Müslüm liest aus Franticek's Märchensammlung «Ali Baba und die 40 Kunstkritiker», Ausstellungsansicht Kunsthaus Interlaken, 2013


Das Märchen von der Authentizität

Ein junger Künstler versuchte sich treu zu bleiben. Je mehr er versuchte, sich treu zu bleiben, umso mehr ging er sich dabei fremd. Die Seitensprünge häuften sich. Aber er blieb sich treu und ging sich fremd. Eines Tages ging er sich so fremd, dass das Fremde ihm vertrauter war als das Vertraute. So blieb er dem Fremden treu und das Vertraute fing an zu fremden. Bald fremdete wiederum das Fremde und das Vertraute schien fremder als das Fremde. Das ging so hin und her... einmal war das Fremde ihm fremd, ein ander Mal war ihm das Vertraute fremd... und wenn er nicht gestorben ist, versucht er noch heute, sich treu zu bleiben.


Das Märchen von der Chancengleichheit

Es waren einmal zwei junge Künstler. Der eine kam aus gutem Haus, der andere kam aus schlechtem Haus. Die zwei Künstlerfreunde verstanden sich bestens. Nächtelang diskutierten sie über das Leben und die Kunst und stellten sich gegenseitig ihre Welt auf den Kopf. Tagsüber realisierten sie, was sie nachts ausgeheckt hatten. Die zwei Künstler wurden bald bekannt. Gemeinsam zeigten sie ihre Werke in vielen Ausstellungen. Das Publikum liebte ihre verrückten Ideen. Was die beiden schufen, traf den Nerv der Zeit. Doch obwohl sie eng befreundet waren, kamen ihre Werke sehr unterschiedlich daher: Der eine rühre mit grosser Kelle an, der andere hatte bloss ein Löffelchen. Der Sohn aus gutem Haus besuchte bald eine teure Kunstschule. Der Sohn aus schlechtem Haus kellnerte nebenher und machte weiter seine Ausstellungen in Off und Off Off und Off Off Off Spaces. Als der Sohn aus gutem Haus sein Studium abgeschlossen hatte, bewarben sich beide für den Swiss Art Award. Die Jury kannte schon die Arbeiten vom reichen Sohn. Seine reichen Eltern kannten einen reichen Galeristen mit reichen Freunden und einflussreichen Freundinnen die wiederum einflussreiche Freunde und reiche Freundinnen der Jury kannten.... Der Andere kellnert heute noch!


Das Märchen vom schwarzen Quadrat

Es war einmal ein schwarzes Quadrat, das hing an einer langen weissen Wand in einem grossen hellen modernen Museum. Jeden Tag betrachtete es seine Betrachter und hörte was sie in politisch korrektem Vokabular über sein schwarzes Aussehen sagten. Gerne hätte das Bild ab und zu widersprochen. Doch es hielt sich zurück und liess die Leute reden. Aber nachts, wenn das Museum geschlossen war, da hüpfte es von der Wand, huschte hinüber zu Marilyn von Andy Warhol und raunte mit tiefer dunkler Stimme: Ich liebe dich !


Das Märchen von der etablierten Kunst

Es begab sich zu einer Zeit, da war die Kunsthalle Bern noch jung. Da standen sich zwei gegensätzliche Werke in einer Ausstellung gegenüber. Eines hörte auf den Namen „etablierte Kunst“ und war gar wohldurchdacht. Das andere hörte auf den Namen „freche Kunst“ und hatte keine Kinderstube. Jeden Tag standen sich die beiden Gegensätze gegenüber und beäugten sich. Die freche Kunst lümmelte auf ihrem Sockel rumm und machte Spässe mit dem Publikum. Die etablierte Kunst liess sich von den Besuchern nie aus der Fassung bringen. Sie verharrte tagelang in sublimer Haltung und liess sich gern bewundern. Eines Abends ächzte sie ganz gewaltig. Sie hatte sich in ihrer sublimen Haltung einen Hexenschuss eingefangen. Die Schmerzen brachten sie an den Rand der Verzweiflung. Sie konnte sich kaum noch auf ihrem Sockel halten. Nachts, als die Kunsthalle geschlossen war, da hielt es die etablierte Kunst nicht mehr aus. Sie heulte und schrie vor Schmerzen. Da kletterte die freche Kunst zu ihr hinüber: „Ich geb dir jetzt mal eine Massage ! Entspann dich!“  Sie ergriff mit ihren dreckigen Fingern den Körper der etablierten Kunst und massierte ihn von allen Seiten. Vom Sockel über die Hüften, vom Bauch bis zum Scheitel, von der Form bis zum Inhalt, von der Preisliste bis zur Signatur. Die etablierte Kunst stöhnte unter den kräftigen Fingern der frechen Kunst. Mit jeder Berührung fühlte sie sich besser und besser. Nie hätte sie sich träumen lassen, dass freche Kunst so entspannend sein kann.


Das Märchen vom richtigen Passepartout

Es war einmal eine alte Radierung die fühlte sich von ihrem Passepartout vernachlässigt. Sie versuchte zu strahlen und sich im Wettstreit mit den anderen Kunstwerken im graphischen Kabinett zu behaupten. Doch ihr Passepartout verschlief jeden Auftritt und liess sie bei sämtlichen wichtigen Terminen im Stich. Sie träumte davon, wie schön es wäre, in einem frischen Passepartout zu stecken, einem Passepartout mit Energie und Initiative, einem Passepartout der die Betrachter zum Verweilen einladen würde, einem Passepartout an den sie sich anschmiegen könnte in den langen kalten Nächten im klimatisierten Museum. Die alte Radierung träumte so vor sich hin, als plötzlich zwei junge Restauratorinnen mit weissen Handschuhen vor ihr standen und ihr tief in die Augen schauten. Die Frauen machten ein sorgenvolles Gesicht. Sie nahmen die Radierung von der Wand und brachten sie in die Werkstatt. Dort wurde sie in ihrem Rahmen sanft auf einen grossen Tisch gelegt. Vorsichtig hantierten die Frauen an ihrem Rücken. Sie spürte wie ein Lufthauch um ihre Hüften wehte und plötzlich wurde ihr gewahr, dass sie ganz ohne Rahmen und ohne Passepartout splitterfasernackt auf dem Tisch lag. Die frische Luft kribbelte am ganzen Körper. Sie streckte und reckte sich. Und während sie so nackt dalag und tief durchatmete, da kamen die zwei Frauen mit unzähligen neuen Passepartouts und hielten sie ihr vors Gesicht. Passepartouts in feinsten Farbnuancen, Passepartouts mit edlen Prägungen, mit Schrägschnitt, mit Filet und ohne Filet, allesamt säurefrei, manche gar gepuffert. Die alte Radierung kam aus dem Staunen nicht mehr raus. Die Frauen prüften mal diesen und mal jenen Passepartout, doch keiner schien gut genug. Bald wurde es Mittag und die zwei Frauen gingen zum Essen. Die Radierung lag noch immer nackt auf dem grossen Tisch. Und während sie so dalag, hörte sie auf einmal ein leises Räuspern. Sie erschrak und schaute sich um. Doch sie konnte niemanden erblicken, vielleicht hatte sie sich getäuscht. Nach einer kurzen Weile hörte sie das Räuspern erneut, diesmal deutlicher und ganz aus ihrer Nähe. Sie blickte auf und staunte: Im Regal direkt vor ihr, da stand ein stattlicher hübscher gutgebauter junger hochbegabter Passepartout. Mit sanften klugen Augen schaute er sie an. Ihre Blicke trafen sich. Er lächelte ihr zu. Die Radierung wusste nicht wie ihr geschah. Plötzlich fröstelte sie am ganzen Leib. Sie konnte ihren Blick nicht mehr von dem stattlichen Kerl abwenden. Er hatte so etwas Unglaubliches... etwas Unwiderstehlich... und wie stolz er da im Regal stand... kräftig und elegant zugleich, ein echter Passepartout von Welt ! Immer wieder blinzelte sie verstohlen zu ihm hinüber. Es war Liebe auf den ersten Blick. Sie schauten sich an und beide waren verliebt bis über alle vier Ecken. Inzwischen war aber die Mittagspause vorbei und die zwei Restauratorinnen kamen zurück. Nochmals verglichen sie die verschiedenen Möglichkeiten, aber kein Passepartout schien angemessen. Jedesmal wenn die weissen Handschuhe sich mit einem Passepartout näherten, dann versuchte die Radierung möglichst schlecht darin auszusehen. Sie wand sich und verbog sich oder schaute möglichst matt und zerknittert drein. Sie wollte nur noch „den Einen“. Keinen Anderen. Sie hoffte, dass die weissen Handschuhe endlich „ihren Auserwählten“ ergreifen würden. Jenen Unwiderstehlichen, dessen Blicke sie liebte. Ach, wie herrlich wäre ein Leben mit ihm... Die zwei Restauratorinnen waren sich einig, dass sie nach einer anderen Lösung suchen mussten. Kein Passepartout schien bisher der Richtige. Da greift plötzlich die eine ins Regal: „Komm, wir versuchens mal mit diesem... Der steht hier schon lange rumm und passt sonst nie!“... Und sie ergreift nun tatsächlich den Verliebten. Die alte Radierung kann es kaum glauben. Ihr Atem stockt, der gutaussehende charmante Passepartout wird ihr auf den Leib gedrückt. Ein Schaudern ergreift sie beide. Der Passepartout umfasst sie liebevoll, respektvoll, unaufdringlich, fürsorglich, zurückhaltend und kraftvoll. Bei jeder Berührung seines säurefreien Körpers erbebt die Radierung am ganzen Blatt. Sie strahlt wie ein junger Laserprint. Beide schmiegen sich innig aneinander. „Findest du nicht auch, dass dies genau der Richtige ist?“ räuspert sich die Restauratorin erstaunt. „Ja, unglaublich, der passt! Ich hätte nicht gedacht, dass wir für den jemals noch Verwendung finden“. Sie ergreifen das frisch verliebte Paar, fügen es behutsam in den Rahmen und hängen es zurück an ihren angestammten Platz in der Ausstellung. Da hören die beiden Frauen ein rätselhaftes Raunen, ein feenhaftes Tuscheln, staunende Ahhh’s, bewundernde Ohh’s und zauberhafter Gesang erfüllt die Räume. Die beiden Restauratorinnen können es kaum glauben. Die Werke der Sammlung tanzen und singen. Das Glück der zwei frisch Gerahmten überträgt sich auf alle anderen Werke. Das Museum lebt. Die Werke umarmen sich. Die Besucherzahlen steigen ins Unermessliche. Von nah und fern eilen die Menschen herbei. Alle wollen "die Beiden" sehen, die glücklich Verliebten, die alte Radierung und ihren unwiderstehlichen Passepartout. Und wenn sie nicht gestorben oder von einem ehrgeizigen Kurator abgehängt worden sind, dann feiern sie auch dieses Jahr einen neuen Publikumsrekord.